IST KINDERLITERATUR NUR FÜR KINDER?
Eine lange Zeit übersehene Vergangenheit der Kinderliteratur
Die ersten Werke, die für Kinder geschrieben wurden, waren eigentlich Handbücher über Benimmregeln. Alle Regeln wurden in Stichpunkten aufgelistet: „Spiel nicht mit deiner Nase beim Essen, kaue nicht an deinen Fingernägeln!“
Noch im 18. Jahrhundert galt das Schreiben für Kinder als intellektuell erniedrigend und wurde verachtet. Glücklicherweise wurde Mitte des 19. Jahrhunderts Papier billiger, und die Alphabetisierungsrate stieg. Die für Kinder verfassten Geschichten befreiten sich ein Stück weit von ihrem autoritären und belehrenden Ton. So begann die Blütezeit der Kinderbücher. Doch nun wurde erwartet, dass Kinderbücher in erster Linie lehrreich und erst in zweiter Linie unterhaltsam sein sollten. Diese Entwicklungen ermöglichen es uns, die kulturelle Transformation innerhalb der Kinderliteratur nachzuverfolgen.
Als ich in meinen Dreißigern zum ersten Mal die Sandwolf-Serie las, erinnere ich mich an die Aufregung, mit der ich erkannte, dass ich die Welt wieder mit den Augen eines Kindes sehen konnte. Es war auch eine Gelegenheit, die Enttäuschung über die populärsten Bücher meiner eigenen Kindheit zu überwinden.
Zusammen mit meinem Sohn las ich Momo, Frederick, Der gutherzige Riese Memo, Matilda, Der fantastische Mister Fox, Klick Klack Muu! und Der kleine schwarze Fisch – und unzählige weitere Kinderbücher. Sie gaben mir täglich die Möglichkeit, Neues zu entdecken und mich erneut in die kindliche Perspektive zu versetzen. Kinderliteratur erinnert uns an so vieles, was wir im Erwachsenenalter vergessen haben, und hilft uns, die Welt mit unserem reinsten Herzen zu betrachten.
Haben wir nicht in jedem Alter Kinderbücher nötig, die unsere Fantasie nähren, uns zum Nachdenken bringen und gleichzeitig Hoffnung schenken?
Die amerikanische Kinderbuchautorin Ursula K. Le Guin, die darüber schrieb, dass wir in einer kapitalistischen Welt leben und ihrer Macht nicht entkommen können, sagte, dass Widerstand und Wandel oft mit Kunst beginnen – mit der Kunst der Worte. Diese Aussage bestätigt die Existenzberechtigung der Kinderliteratur. Denn in Kinderbüchern werden Themen in ihrer natürlichsten und reinsten Form vermittelt. Schwierige Themen wie Migration, Tod, Gerechtigkeit oder das in den letzten Jahren oft diskutierte Mobbing werden in illustrierten Kinderbüchern mit einer starken, aber schlichten Sprache erzählt.
Statt belehrend oder moralisch zu sein, erreichen sie durch ihren feinsinnigen Humor Menschen jeden Alters. Intelligent behandelte Themen, spielerische Illustrationen und eine visuelle Pracht machen diese Bücher einzigartig.
In gewisser Weise ist Kinderliteratur auch für Erwachsene eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, zum Erinnern und zur Neubewertung des Lebens und seiner Konzepte. Öffnet sie nicht ein Fenster von unserer Gegenwart zurück in unsere Kindheit?
Brauchen wir nicht immer wieder diese kraftvollen Stimmen, die uns ausmachen – Glück, Freude, Neugier und Hoffnung? Kinderbücher begleiten uns auf unserer Reise, geben uns Mut und spenden Licht selbst in Momenten der Traurigkeit.
Die Leidenschaft für Kinderbücher beginnt mit einem kleinen Schritt – doch je tiefer man eintaucht, desto größer wird sie.
Tuğba M. Alperen